Fritz-Walter-Stiftung

Das Spiel seines Lebens

von Dirk A. Leibfried

Jozef Radizova ist erschöpft, als er sich auf seinem Sofa niederlässt. Die Drei-Zimmer-Wohnung in einem Vorort von Bratislava, die er mit seiner Ehefrau Alena bewohnt, ist spartanisch eingerichtet, Jozef hat längst keine großen Ansprüche mehr an das Leben. Zumindest keine materiellen. Zu den wenigen wirklich nennenswerten Kostbarkeiten seines Inventars zählt ein Transistorradio, wo sie manchmal Jazz spielen. Jozef liebt Jazz. Und er liebt Fußball. Vor allem heute. Die letzten zwei Stunden fieberte er mit der deutschen Nationalmannschaft, die im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 auf den haushohen Favoriten Ungarn traf. Er lief in der Wohnung auf und ab, fluchte, riss die Arme nach oben und hätte den Ball am liebsten höchstpersönlich im Tor versenkt. Und er fieberte mit Friedrich.

Es heißt, dass vor allem in extremen Situationen Menschen zusammenwachsen und Freundschaften fürs Leben schließen. Mit Friedrich und ihm war es so, denkt Jozef, der sich nach dem Schlusspfiff ein Gläschen genehmigt. Immer wieder prostet er dabei seinem Transistorradio zu. Vielleicht, um ihm, seinem Freund aus früheren Zeiten, näher zu sein. Jozef ist erschöpft. Müde, aber mit einem lange nicht mehr gespürten Glücksgefühl legt er seinen Kopf auf ein ausgefranstes Sofakissen. Er lächelt, als er einschläft und an Friedrich denkt. An seinen Freund, den er vor neun Jahren das letzte Mal gesehen hat.


Die meisten Tore der Häuser und Gehöfte in Sighetu Marmatiei werden traditionell von liebevollen Holzschnitzereien geziert. An der Theiß, einem Nebenfluss der Donau, spielen Kinder; so als könnten aufsteigende Drachen das Elend einfach mit in den Himmel nehmen. Doch die Idylle in der rumänischen Residenzstadt ist trügerisch. Der Krieg hat viele Wunden gerissen, Menschen getrennt, Frauen ihre Männer, Kindern ihre Väter und Müttern ihre Söhne geraubt. Bis 1944 wurden von hier mehr als 20.000 Juden nach Auschwitz und andere Konzentrationslager deportiert. Wenige Kilometer von Sighetu entfernt hat die Rote Armee gegen Ende des Krieges ein Gefangenenlager errichtet.

Der alte Bauernhof, dem selbst der Krieg kaum etwas anhaben konnte und der vielleicht deshalb mit der Unschuld kokettiert, verfügte über mehrere Wohnhäuser und Stallungen. Als sogenanntes Einzellager unterstand es mit mehreren anderen Standorten einer in der Nähe gelegenen Lagerverwaltung, die den Aufsehern nur die notwendigsten Instruktionen erteilte. Soldaten reden nur, wenn es unbedingt notwendig ist. Jozef war zwar froh, dass das Morden endlich vorbei war, trotzdem dachte er viel nach, jetzt im Sommer 1945. Über sich. Den Krieg. Die Verzweiflung. Den Wahnsinn. Lange Zeit waren die Slowaken auf Seiten der Deutschen. Als Nazi-Deutschland am Boden lag, begann eine neue Zeitrechnung. Die Perversion des Krieges.

Und so kam es, dass er hier in der Nähe von Sighetu Marmatiei, im Grenzgebiet zur Ukraine, nun gemeinsam mit anderen Slowaken, aber auch Ungarn die Kriegsgefangenen bewachte. Deutsche. Vor allem Deutsche. Ausgerechnet Deutsche. Nein, für Jozef ist der Krieg noch lange nicht zu Ende. In die Sudeten sollen sie, die Slowaken, umgesiedelt werden. Hat er gehört. Doch vorerst musste er Deutsche bewachen. Und Friedrich.

Den lernte Jozef in der Krankenstation kennen. Was eigentlich nicht ganz den Tatsachen entspricht. Denn zum ersten Mal gesehen hat Jozef den inzwischen völlig abgemagerten Friedrich zweieinhalb Jahre früher. Am 22. November 1942 bestritten die Deutschen ihr für lange Zeit letztes Länderspiel. In Bratislava, das die Deutschen einfach nur Pressburg nannten, gewann die deutsche Mannschaft 5:2 gegen die Slowakei. Acht Jahre lang sollten die Deutschen und Friedrich danach kein Länderspiel mehr bestreiten. Jozef war im Stadion, sah die Deutschen zaubern und vergaß für einige Augenblicke den Krieg.

Als Friedrich dann in Sighetu eingeliefert wurde, dachte Jozef sofort, in ihm den genialen Fußballer der deutschen Mannschaft wieder zu erkennen. Sie redeten. Nächtelang. Über den Krieg und seine Stationierungen in Sardinien, auf Korsika und auf Elba. Über Kameradschaft. Über Familie. Und über Fußball. Friedrich erzählte Jozef, dass nach dem Spiel in Pressburg für alle ein völliges Spielverbot galt. Die Spieler sollten sofort an die Front versetzt werden. Doch Friedrich wollte spielen. Egal wie. Unter falschem Namen lief er für eine französische Soldaten-Elf auf. Der Schwindel kam raus.

Friedrich schmunzelte, als er Jozef diese Geschichte erzählte. Nur kurze Zeit später lernte Friedrich Major Hermann Graf kennen. Der Luftwaffenoffizier gründete eine Militär-Fußballmannschaft, trug zahlreiche Freundschaftsspiele aus und konnte so jede Menge Spieler für lange Zeit vom Fronteinsatz verschonen. Doch auch die Spieler der „Roten Jäger“ waren am Ende ganz gewöhnliche Soldaten. Junge Männer, die im Kugelhagel starben, bei Bombenangriffen ein Bein verloren – und junge Männer, die später in sowjetische Gefangenschaft gerieten. So wie Friedrich.

Jozef hatte erfahren, dass Friedrich mal wieder auf der Krankenstation zu finden sei. Erneut hatte ihn ein Malaria-Anfall ereilt. Friedrich sah grausam aus. Er lag unter einer Wolldecke, die muffig roch, obwohl sie vorher in Waschlauge aus billiger Kernseife gereinigt wurde. Riecht so die Gefangenschaft? Der Tod? Wie viele Soldaten, die nicht mehr leben, haben in diesem Bett, haben unter dieser Decke gelegen?

Viel mehr als eine Salami und etwas Brot konnte Jozef nicht in das Zimmer schmuggeln. Zu Kräften musste sein Freund schon allein kommen. Irgendwie. Als er am Bett von Friedrich saß, fiel ihm wieder ein, was er vor wenigen Tagen gehört hatte. Angeblich wurden tausende von Kriegsgefangenen in Straf- und Arbeitslager nach Sibirien transportiert. Doch Jozef behielt das für sich, er wollte den kranken Friedrich nicht unnötig ängstigen. Längst waren die ersten Transporte unterwegs, nur seine Erkrankung hat Friedrich vorerst vor der Deportation gerettet.

Menschen wachsen in Extremsituationen zusammen. Und so kam es, dass sich zwischen dem Aufseher Jozef und dem Gefangenen Friedrich eine enge, ganz eigene Freundschaft entwickelte. Eine hinter den Mauern eines Gefangenenlagers. Fernab des Leids der vergangenen Jahre und fernab der bestehenden Ängste und der noch bevorstehenden Schicksale. Argwöhnisch von den anderen beobachtet, fanden Jozef und Friedrich eine Ebene, die für niemanden sonst erreichbar gewesen wäre. Diese Freundschaft, in den wenigen Monaten so intensiv gelebt, schenkte den beiden darüber hinaus jede Menge Trost. Sie ersetzten gegenseitig die Familie des anderen. Und die Freunde, von denen niemand so genau wusste, ob sie noch leben.

Während die Lagerleitung bereits weitere Züge nach Sibirien auf den Weg schickte, planten Jozef und Friedrich noch auf dem Krankenbett ein Fußballspiel. Gefangene und Wachsoldaten sollten gemeinsam antreten, ihr Heimweh für ein paar Stunden vergessen. Während sich Friedrich langsam wieder erholte, organisierte Jozef tatsächlich ein Fußballspiel in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager – und einen Lederball. Die ungewöhnliche Begegnung hatte etwas befreiendes, alle liefen, als wollten sie der Kriegsgefangenschaft zu Fuß entkommen. Sie kombinierten, sie dribbelten, sie schlenzten und sie zauberten. Vor allem einer zauberte: Friedrich – und er verzauberte damit wohl auch den Lagerkommandanten Alexander Schukow. Der hatte von Jozef längst erfahren, um wen es sich bei dem brillanten Techniker handelt.

Auch der nächste Zug nach Sibirien ist ohne Friedrich gestartet. Jozef weiß bis heute nicht, was Schukow in den Tagen nach dem Spiel unternommen, organisiert oder eben gerade nicht organisiert hat. Ende Oktober 1945 durfte Friedrich nach Hause. Zurück nach Deutschland. Sein letzter Blick, seine letzte Umarmung galt Jozef, seinem Freund aus Bratislava. Jozef schaute Friedrich noch eine Weile lang nach, als dieser, immer noch etwas hager, gemeinsam mit seinem Bruder das Lager verließ und ganz langsam am Horizont der wieder gewonnenen Freiheit verschwand. Jozef lächelte. Kaum sichtbar. Mit einem lange nicht mehr gespürten Glücksgefühl.

Alena, die einkaufen war, weckt ihn unsanft auf. Sie kann sich nicht erklären, wieso ihr sonst so mürrischer Ehemann mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen ist, ein leeres Weinglas und das kaum hörbare Transistorradio auf dem Tisch neben ihm. Alle Fragen laufen ins Leere. Doch weil Alena partout nicht aufgeben will, lässt er sich doch noch zu einer Erklärung für sein ungewöhnliches Verhalten hinreißen: „Mein Freund hat gerade sein zweitwichtigstes Spiel in seinem Leben gewonnen.“

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